Bessere Entscheidungsfindung im klinischen Alltag

18. August 2020
  • Medizin
  • QM

… der Onkologe Priv.-Doz. Dr. Thomas Elter setzt auf ärztliche Intelligenz und UpToDate

Onkologische Fälle stellen Ärzte vor komplexe Anforderungen. Auf welche Ressourcen sollen sie zurückgreifen in einer Zeit, in der medizinisches Wissen explosionsartig wächst? Welchen Stellenwert haben bei ihrer Entscheidungsfindung S3-Leitlinien, Tumorboards, Systeme mit Künstlicher Intelligenz (KI), Smartphone-Applikationen und entscheidungsunterstützende Systeme wie UpToDate? Hier die Einordnung von Priv.-Doz. Dr. Thomas Elter, Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie in der Klinik I für Innere Medizin der Uniklinik Köln und Geschäftsführer der Easy Medical Applications GmbH.

S3-Leitlinien gehören laut dem System der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) der höchsten Entwicklungsstufe von Leitlinien an. Sie sollen Ärzte bei Entscheidungen für bestmögliche Outcomes unterstützen; oft sind klinikeigene SOPs („standard operating procedures“) an sie angelehnt. „Ihr Vorteil ist“, so Priv.-Doz. Dr. Elter, „dass sie evidenzbasiert sind. Allerdings bilden sie nicht alle soliden Tumore ab und enthalten zum Teil veraltete Empfehlungen, d.h. sie stellen die aktuell zugelassenen therapeutischen Möglichkeiten nicht verlässlich dar“. Der Onkologe bemängelt ferner ihr unübersichtliches Format mit teils mehr als 700 Textseiten. Empfehlungen zu Therapieprotokollen enthalten sie beispielsweise nicht, dafür wird die Evidenz zur grundsätzlichen Therapiestrategie angegeben. Leitlinien bieten somit nur eine Orientierung, keine bindende Vorgabe.

Fachportale wie Onkopedia und NCCN bieten laut dem Experten vertiefende Information und ausreichende Diskussion zur Herleitung der empfohlenen Therapieoptionen. Allerdings ist in den meisten Fällen eine zeitintensive Suche zur Therapieempfehlung notwendig. Diese Online-Portale sind zumeist nicht frei zugänglich oder beinhalten Portal-geschützte Bereiche.

Welchen Einfluss haben Tumorboards auf das Outcome der Patienten? Dazu zitiert Priv.-Doz. Dr. Elter einen Artikel aus dem renommierten britischen Journal of the National Cancer Institute (JNCI): Tumorboards haben keinen messbaren Effekt auf die wesentlichen Kriterien Behandlungsqualität und  Überlebensrate der Patienten, dafür ist die Qualität der Empfehlungen zu sehr durch die unterschiedliche und nicht abgesicherte Kompetenz und Expertise der Tumorboardteilnehmer angewiesen.1

KI dient derzeit eher als „erweiterte Intelligenz“

Und welchen Beitrag könnte die KI für die tägliche Arbeit in Diagnose und Therapiestellung leisten? Es gibt beeindruckende Entwicklungen vor allem bei der KI-unterstützen Analyse radiologischer, endoskopischer, histopathologischer und genetischer Daten. Hier finden KI-Anwendungen teils schon heute eine ergänzende Rolle in der diagnostischen Unterstützung von Ärzten und bieten sozusagen eine „erweiterte Intelligenz“.

Zur Anwendung von KI-Systemen in der onkologischen Therapiefindung erinnert der Kölner Onkologe an das Versprechen eines großen, weltweit führenden IT-Unternehmens: „Unser System hilft Ärzten, die Schlüsselinformationen aus den Patientenakten schnell herauszufiltern, relevante Hinweise zu finden und Behandlungsoptionen zu erkunden“. Die ernüchternde Erfahrung nach dem Einsatz in der Klinik zeigte aber, dass dieses System keine ausreichende Sicherheit in den Empfehlungen zur Standardtherapie häufiger Tumorentitäten lieferte. Der Experte nennt Details: Die Konkordanz-Rate, also die Übereinstimmungsrate der KI-Empfehlung mit der letztendlich von den behandelnden Onkologen durchgeführten Therapie, ist teils sehr gering und erreicht in keinem Fall die erforderliche Empfehlungssicherheit.

„Während die Entscheidungsfindung bei Schach, GO, DNA-Sequenzen und medizinischer Bilddiagnostik auf eindeutigen Regeln fußt, folgt die Entscheidungsfindung in der Onkologie zum Teil ‚unlogischen‘ Regeln“, benennt der Onkologe eine mögliche Erklärung für die schlechten Ergebnisse der KI. Dies bedeutet umso mehr, dass KI-Anwendungen von erfahrenen Fachleuten über Jahre trainiert werden müssen. Um den derzeitigen onkologisch-klinischen Nutzen von KI-Anwendungen einzuschätzen verweist Priv.-Doz. Dr. Elter auf einen Artikel in Nature Biotechnology aus 2018: Zum jetzigen Zeitpunkt und auf die nächsten Jahre hinaus sind Experten-generierte Softwaresysteme die zuverlässigste Lösung, um korrekte und realistische Therapieempfehlungen zur Erst- und Zweitlinientherapie für die häufigsten Tumoren zu erstellen.2

Der Onkologe bezweifelt in keiner Weise den großen Nutzen, den KI-Systeme im klinischen Alltag einnehmen werden. Die Möglichkeiten der KI sollten aber vor allem bei den Problemen eingesetzt werden, wo spezielle Fragestellungen nur durch Auswertung und Abgleich gewaltiger Datenmengen zu beantworten sind, also z.B. zur Unterstützung molekularer Tumorboards.

Was ist die derzeit beste Methode zur onkologischen Therapieentscheidung?

„Ich selbst nutze je nach Komplexität der Fälle verschiedene Anwendungen und kombiniere diese mit Informationen aus UpToDate“, so Priv.-Doz. Dr. Elter. „Um onkologische Therapieempfehlungen schnell abzurufen, habe ich mit Hilfe von Klinikern aus Tumorzentren und niedergelassenen Onkologen die App ‚EasyOncology‘ entwickelt. Die App basiert auf Therapieempfehlungen aus Leitlinien, auf dem aktuellen Zulassungsstatus der onkologischen Therapeutika und dem klinischen Alltag erfahrener Akteure in Tumorzentren – und ist somit meist aktueller als Leitlinienportale. Neben onkologischen Standardsituationen sind Informationen etwa zu Nebenwirkungen und dem Patientenmanagement enthalten. Hieraus wurde in kurzer Zeit eine unter Onkologen etablierte Anwendung, die in mehreren Fachzeitschriften wie dem Ärzteblatt empfohlen wurde. Schon 2017 zeigte ein Test von 157 Applikationen, der in Translational Oncology publiziert wurde, dass nur drei ‚all-in-one-Apps‘ empfehlenswert waren: RadOnc Reference (englisch), Easy Oncology (deutsch) und iOncoR (spanisch).3 Easy Oncology ist die derzeit einzige kontinuierlich gegen Tumorboardentscheidungen validierte App und weist eine Übereinstimmungsrate an die 100 % auf. Aus der zunächst zur Informationsbasis gedachten App hat sich durch die fortlaufende Validierung ein Werkzeug entwickelt, das sich nun die Qualitätssicherung und Vergleichbarkeit onkologischer Boards zum Ziel gesetzt hat. EasyOncology ist eine schöne Unterstützung, die onkologische Realität besteht nur leider nicht aus Standardfällen. In den meisten klinischen Verläufen tauchen Fragen auf, die vielleicht durch die Expertise erfahrener Kollegen beantwortet werden können. Ansonsten führt in meiner Arbeit kein Weg an UpToDate vorbei.“

Quelle:

uptodate.com


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