Warum bleibt die ELSA‑Studie zu Abtreibungen bei ungewollter Schwangerschaft unter Verschluss?
Einleitung
- Medizin
- Politik
Die ELSA‑Studie („Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung“) wurde 2020 vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) in Auftrag gegeben. Ein Forschungsverbund aus sechs Hochschulen untersuchte Erfahrungen ungewollt schwangerer Frauen, die psychosoziale Beratung und die medizinische Versorgung von Schwangerschaftsabbrüchen. Der Abschlussbericht wurde Ende 2024 an das BMG übermittelt, ist aber bis August 2025 noch nicht veröffentlicht. Die Verzögerung löst Kritik aus, da die Studie die bisher umfassendste deutsche Untersuchung zu ungewollter Schwangerschaft ist[1][2].
· Die Studie basiert auf einer repräsentativen Online‑Befragung von 4 429 Frauen mit ungewollten oder gewollten Schwangerschaften und einer nicht repräsentativen Befragung von 662 Frauen nach Schwangerschaftsabbruch[3]. Ergänzt wurden qualitative Interviews und Strukturdatenanalysen zu Beratungsstellen und Abbruchkliniken[4].
· Vorläufige Ergebnisse, die bei der Abschlusstagung am 10. April 2024 präsentiert wurden, zeigen deutliche Versorgungslücken: 85 der 400 Landkreise erfüllen die Vorgabe nicht, innerhalb von 40 Minuten eine Abbruchstelle zu erreichen; 43 dieser Landkreise liegen in Bayern[5]. Viele Frauen müssen weite Wege zurücklegen, insbesondere in Bayern, Baden‑Württemberg und Rheinland‑Pfalz[6]. In manchen Kreisen kommen auf eine Abbruchstelle bis zu 31 428 Frauen im gebärfähigen Alter[7].
· Aus der Online‑Befragung geht hervor, dass fast die Hälfte der ungewollt Schwangeren den Abbruch geheim halten wollte oder musste und rund ein Drittel nicht die bevorzugte Methode nutzen konnte[1]. Etwa 65 % der beteiligten Ärztinnen und Ärzte berichten von Stigmatisierung[8].
· Die Studie empfiehlt, den Abbau regionaler Versorgungsbarrieren, bessere Informationen und eine stärkere Beteiligung des Bundes an der Koordination zu prüfen[9].
· Laut offiziellem Zeitplan sollte der Abschlussbericht am 31. Oktober 2024 beim BMG eingereicht werden und nach Prüfung öffentlich zugänglich sein[10].
· Die Untersuchung kostete über vier Millionen Euro und gehört zu den teuersten Forschungsaufträgen des BMG der letzten zehn Jahre[11][12]. Sie wurde im Herbst 2024 abgeschlossen und dem Ministerium übergeben.
· Trotz mehrfacher Zusagen („in den nächsten Wochen“) gibt das Ministerium unter der seit Dezember 2024 amtierenden Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) auch im Sommer 2025 kein konkretes Veröffentlichungsdatum an[13][14]. Ein Sprecher erklärte gegenüber Medien, der Bericht befinde sich in der Endphase der Projektabnahme; genauere Gründe für die Verzögerung nannte er nicht[13].
· Die ELSA‑Studie wurde ursprünglich von Ex‑Minister Jens Spahn (CDU) initiiert. Sie sollte vor allem belastbare Daten liefern, um die Versorgungslage zu verbessern.
· Parallel wurde 2024 eine Sachverständigenkommission zur reproduktiven Selbstbestimmung eingesetzt, die im April 2024 empfahl, Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen aus dem Strafgesetzbuch herauszunehmen. Dies traf auf Widerstand der Union.
· Im Dezember 2024 scheiterte ein interfraktioneller Gesetzentwurf von Grünen, Linken und SPD, der eine Entkriminalisierung vorsah, am Widerstand von Union und FDP. Nina Warken kritisierte den Entwurf im Bundestag und warnte davor, Abtreibungen zu etwas „Normalem“ zu machen[15].
· Die neue schwarz‑rote Koalition (CDU/CSU und SPD) hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, die Versorgungslage ungewollt Schwangerer zu verbessern und die Kostenübernahme auszuweiten, lehnt aber eine Reform des § 218 StGB ab.
Perspektiven & Kontroversen
· Das BMG argumentiert, der Bericht befinde sich in der Projektabnahmephase und müsse formal geprüft werden[13]. Dabei werden Forschungsberichte häufig auf formale Kriterien (z. B. Datenschutz, Einhaltung des Vergaberechts) geprüft, bevor sie freigegeben werden.
· Die Studienspitze betont, dass die Ergebnisse seit Dezember 2024 dem Ministerium vorliegen; die Verzögerung sei ungewöhnlich[12].
· Einige Beobachter vermuten, dass das Ministerium die Veröffentlichung aus politischen Gründen hinauszögert, weil die Ergebnisse Forderungen nach einer liberaleren Gesetzgebung stützen könnten[15].
· BMG‑Sprecherinnen erwidern, dass der Bericht nach Abschluss der Prüfungen auf der Website veröffentlicht werde und keine Pressekonferenz geplant sei[12].
· Abgeordnete der Grünen und der Linken werfen der Ministerin vor, politisch unerwünschte Erkenntnisse zu vertuschen. Ulle Schauws (Grüne) und Clara Bünger (Linke) fordern die sofortige Veröffentlichung[16].
· Fachverbände und Beratungsstellen betonen, dass die Studie dringend benötigt werde, um Versorgungsdefizite gezielt beheben zu können.
· Die Leiterin des Forschungsverbunds, Daphne Hahn, erklärte, sie wundere sich über die ausbleibende Veröffentlichung, zumal das öffentliche Interesse groß sei[17].
· Befürworter einer Liberalisierung interpretieren die vorläufigen ELSA‑Daten als Beleg für strukturelle Defizite und hohe psychische Belastungen, die durch rechtliche Hürden verstärkt würden. Sie argumentieren, dass Abtreibungen entkriminalisiert und die Versorgung ausgebaut werden müssen.
· Konservative Stimmen weisen darauf hin, dass Abtreibungen grundsätzlich rechtswidrig bleiben sollen. Ein von der CDU eingeladener Sachverständiger, Prof. Matthias David, hinterfragte im Februar 2025 im Rechtsausschuss die Aussage, es gebe ein Versorgungsproblem, und hielt die 40‑Minuten‑Marke für willkürlich[18]. Dies zeigt, dass die Bewertung der ELSA‑Ergebnisse auch methodisch umstritten ist.
· Einige Juristen aus der Union deuten den Koalitionsvertrag so, dass eine erweiterte Kostenübernahme für Abtreibungen ohne Änderung des § 218 möglich sei; andere sehen darin implizit die Notwendigkeit einer Legalisierung[19].
Die ELSA‑Studie liefert wichtige Erkenntnisse über die Lebenslagen ungewollt Schwangerer, Versorgungslücken und Stigmatisierung. Obwohl der Abschlussbericht seit Ende 2024 vorliegt, hält das Bundesgesundheitsministerium die Veröffentlichung zurück und begründet dies mit einer noch laufenden Projektabnahme[13]. Die Verzögerung sorgt für Misstrauen, weil sie mit der angespannten politischen Debatte um § 218 StGB zusammenfällt. Oppositionspolitikerinnen vermuten, dass unliebsame Erkenntnisse zurückgehalten werden, während das Ministerium auf formale Abläufe verweist. Die Veröffentlichung ist wichtig, um eine faktenbasierte Debatte über reproduktive Rechte und Versorgungsstrukturen zu ermöglichen und Handlungsempfehlungen umzusetzen.
Quellenverzeichnis:
- Annette Lämmerhirt u. a.: „Ungewollte Schwangerschaft: ELSA‑Projekt stellt erste ausgewählte Ergebnisse vor“. Evangelische Hochschule Freiburg, 10.04.2024[20].
- Bundesgesundheitsministerium (BMG): Projektbeschreibung „Angebote der Beratung und Versorgung (ELSA) – Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer“. Letzte Aktualisierung Mai 2021[21].
- TAZ: „Warum bleibt eine Studie zu Abtreibungen unter Verschluss?“, 01.08.2025[1][12][15].
- DER SPIEGEL: „Grüne und Linke drängen auf Studien-Veröffentlichung“, 01.08.2025[13][16].
- Süddeutsche Zeitung/dpa: „Kreis für Kreis untersucht: Abstand zur nächstgelegenen Abtreibungsmöglichkeit“, 10.04.2024[22].
- Informationsdienst Wissenschaft/Hochschule Fulda: Pressemitteilung zum ELSA‑Projekt, 10.04.2024[23].
- hpd (Humanistischer Pressedienst): „Ergebnisse der ELSA‑Studie“ – Bericht über Stigmatisierung und Versorgungsbarrieren, Mai 2024[24][25].
- hpd: Bericht über die Anhörung im Rechtsausschuss, 19.02.2025[26][18].
[1] [12] [15] [17] CDU-geführtes Gesundheitsministerium: Warum bleibt eine Studie zu Abtreibungen unter Verschluss? | taz.de
https://taz.de/Studie-zu-Schwangerschaftsabbruechen/!6104473/
[2] [3] [4] [8] [9] [20] [23] Ungewollte Schwangerschaft: ELSA-Projekt stellt erste ausgewählte Ergebnisse vor – Evangelische Hochschule Freiburg
https://www.eh-freiburg.de/neuigkeiten/ungewollte-schwangerschaft-elsa-projekt-stellt-erste-ausgewaehlte-ergebnisse-vor/
[5] [6] [7] [22] Studie – Möglichkeiten für Abtreibung in Deutschland unterschiedlich – Gesundheit – SZ.de
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/studie-moeglichkeiten-fuer-abtreibung-in-deutschland-unterschiedlich-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240410-99-628333
[10] ELSA-Studie
https://elsa-studie.de/
[11] [13] [14] [16] [19] Erhebung zur Lage ungewollt Schwangerer: Grüne und Linke drängen auf Studien-Veröffentlichung – DER SPIEGEL
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/erhebung-zur-lage-ungewollt-schwangerer-gruene-und-linke-draengen-auf-studien-veroeffentlichung-a-adff614c-a706-4635-9403-687eb4e1b361
[18] [26] Die Debatte zu Schwangerschaftsabbrüchen geht weiter | hpd
https://hpd.de/artikel/debatte-schwangerschaftsabbruechen-geht-weiter-22859
[21] Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung (ELSA) | BMG
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/ressortforschung/handlungsfelder/forschungsschwerpunkte/ungewollte-schwangerschaft/elsa.html
[24] [25] Wie geht es ungewollt Schwangeren in Deutschland? | hpd
https://hpd.de/artikel/geht-es-ungewollt-schwangeren-deutschland-22190
medinfoweb.de

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